Thursday, March 20, 2014

Gehörschutz für Orchestermusiker

Am 18.2.2008 trat in Europa eine gesetzliche Richtlinie präventiver Arbeitsmedizin in Kraft. Sie betrifft den Gehörschutz für Arbeiter, die an ihrem Beschäftigungsort „Lärm“ ausgesetzt sind. Die Richtlinie setzt Grenzwerte fest: eine „untere Schwelle“ von 80 dB, eine „obere Schwelle“ von 85 dB und einen höchsten Grenzwert von 135/137 dB. Die sogenannte „Schmerzgrenze“ liegt nach allgemeiner Einschätzung bei 120 dB. Die einschlägigen Definitionen schließen den Faktor der Dauer der Lärmbelastung ein, die in physikalisch-mathematischen Formeln mit spezifischen Koeffizienten zur Ermittlung von täglichen oder wöchentlichen Lärmbelastungen ausgedrückt sind. Demnach sind also - in der jeweiligen Zusammenstellung - sowohl das Lärmvolumen als auch die Dauer für die mögliche Beschädigung des Hörorgans relevant. Die Schäden entstehen in der Regel allmählich über längere Zeiträume und sind zum größten Teil irreversibel. Ausnahme ist der Temporary Threshold Shift „TTS“, ein zeitlich begrenztes minimales Ertauben als Folge des Erleidens von Lärm ab 75 dB über einen bestimmten Zeitraum, das normalerweise nach einer Ruhepause von 10 – 16 Stunden wieder verschwindet.
Die untere Schwelle von 80 dB bezeichnet den Eintritt in den Warnbereich. Die gewohnheitsmäßige Aussetzung des Gehörs an Dauerlärm über 85 dB erzeugt im Laufe der Jahre mit hoher Wahrscheinlichkeit beim Betroffenen bleibende Hörschäden. Dasselbe gilt für die Aussetzung des Gehörs an 140 dB für Bruchteile von Sekunden. Die physische Belastbarkeit der Personen kann in dieser Hinsicht geringfügig variieren.
Die typischen Berufskrankheiten infolge übermäßiger Lärmbelastung sind: teilweise Taubheit (Verringerung der Lautstärke in der Wahrnehmung, Verzerrung der Wahrnehmung durch Taubheit in bestimmten Frequenzbereichen, schnelle Ermüdbarkeit, zunehmende Schwierigkeit des „Heraushörens“ einer Stimme aus einem allgemeinen Geräuschpegel, Abnahme des räumlichen Hörens); Tinnitus (Dauergeräusche im Ohr wie Summen, Piepen, Klopfen); Hyperakusis (extreme Geräuschempfindlichkeit) und Diplakusis (Wahrnehmungsunterschiede zwischen beiden Ohren). Jedes dieser Krankheitsbilder stellt eine existentielle Bedrohung für einen Musiker dar, da sich die Symptome bis zur Behinderung seiner Arbeitsfähigkeit auswachsen können. Im Laufe der Herabminderung des Hörvermögens erhöht sich außerdem der berufstypische Stress, da ein sensibles Gehör das elementarste Organ der Selbstkontrolle für einen Musiker darstellt. Erhöhtes Stressaufkommen kann seinerseits als Auslöser oder Verstärker etlicher anderer Berufskrankheiten angesehen werden.
Akustische Messungen in Sinfonieorchestern haben ergeben, dass ihre Mitglieder durchschnittlichen Wochen- bzw. Jahresbelastungen von 85 – 95 dB ausgesetzt sind. Spitzenwerte an Arbeitsplätzen vor den Standorten von Trompeten, Posaunen und Schlagzeugen waren 130 dB. Diese Messergebnisse übersteigen unzweifelhaft alle vom Gesetz festgelegten Grenzwerte. Das Problem ist, dass sich Vorrichtungen, die sich für Beschäftigte in Fabriken oder auf Flugzeugstartbahnen anbieten (stark dämpfende Ohrschützer), im Orchester nicht anwendbar sind, wo der „Lärm“ (die Musik) gerade das Produkt ist, das dem Publikum dargeboten wird, und wo der Beschäftigte „ganz Ohr“ sein muss, um seine Pflicht angemessen erfüllen zu können.
Die Publikationen zum Thema erwähnen kulturelle Tendenzen, die das Problem verstärken:
Die neu gebauten Säle, die mit Musik „gefüllt“ werden müssen, werden immer grösser. In Probespielen für Orchester schneiden leicht jene Musiker gut ab, die neben anderen Qualitäten auch einen großen Klang haben; zumal Bläser sind praktisch dazu gezwungen, Instrumente moderner Fabrikation zu verwenden, die klanglich potenter sind als ältere Modelle von vor 40 – 50 Jahren. Das Publikum, das vom Volumen der heimischen HiFi-Anlagen verwöhnt und möglicherweise auch schon generell leicht ertaubt ist, möchte die umwerfenden Lautstärken gerne auch im Konzert hören; auf der anderen Seite widerstehen Orchesterdirigenten nicht leicht der Versuchung, das Publikum mit großen Klangexplosionen zu beeindrucken. Jeder Anflug von Ohrenbetäubung oder beginnender Taubheit bei Musikern hat weitere negative Folgen: wenn der Kollege, dessen Gehör ein wenig gemindert ist, anfängt, lauter zu spielen, weil er sich selbst schon nicht mehr gut hört, wird sein Pultnachbar auch lauter spielen, um die Kontrolle über seinen eigenen Klangbeitrag nicht zu verlieren – ein Teufelskreis.
Die Musikergemeinde übt unter dem Schutz der neuen Richtlinien auch schon gelegentlich Revanche: ein recht komischer Vorfall, der sogar in der Presse kommentiert wurde, war, dass kürzlich nach dem angelegentlichen Protest einer Orchestergewerkschaft ein zeitgenössisches Stück vom Programm genommen wurde, weil es zu laut sei.
Eine ernstere Konsequenz wäre zweifellos eine Lawine von Prozessen vor Arbeitsgerichten, wenn Orchestermusiker wegen Gehörbeschädigung am Arbeitsplatz auf Schadenersatz klagten.

Das Thema steht folgerichtig bei Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften, Krankenkassen, Berufsunfallversicherungen, Arbeitsmedizinern, einigen Forschungseinrichtungen und der Fachpresse auf der Tagesordnung. Die Forschungen mündeten bald in einen Katalog von Strategien und Maßnahmen (vgl. den einschlägigen „“Guide – Safe and Sound“), die für jeden Arbeitsplatz die besten Problemlösungen anweisen. Die vielfältigen Maßnahmen können dabei das Feld der Architektur, der Arbeitsorganisation, der Arbeitspraxis, der Schutzutensilien und der Medizin betreffen. Man ist sich darüber einig, dass für den Orchestermusikerberuf nur eine geschickte Kombination aller Maßnahmen geeignet wäre, die Belastung annähernd innerhalb der Grenzwerte zu halten. Empfohlen wird:
Architektonische Anpassung der Arbeitsräume:
Probenräume: großzügige Dimensionen, schallabsorbierende Oberflächen, vernünftige Abstände zu starken Klangquellen (zumal vor Blechbläsern und Schlagzeugern), Höhenabstufungen in Kombination mit Schallschutz-Schirmen (nach dem Konzept von „Klangumleitungen“).
Konzertsaal: großzügige Bühnenabmessungen, vernünftige Abstände zu starken Klangquellen (zumal vor Blechbläsern und Schlagzeugern), Höhenabstufungen in Kombination mit Schallschutz-Schirmen (nach dem Konzept von „Klangumleitungen“).
Aufenthaltsräume (Probenpausen): akustisch isoliert (still), schallabsorbierende Oberflächen.
Arbeitsorganisation:
· Programmgestaltung wenn möglich unter der Maxime der Untermischung von weniger lauten Stücken;
· Individuelle Diensteinteilung unter dem Aspekt der Abwechslung von Beteiligungen an lauten und weniger lauten Stücken;
· Einschaltung von Gruppenproben;
· Proben im Konzertsaal statt im Probenraum;
· Rotation hinsichtlich der Sitzplätze in der Gruppe;
· Diensteinteilung mit hinreichenden Ruhepausen für jeden einzelnen Spieler;
· Unterweisung der Musiker im Gebrauch der modernen Spezial-Ohrstöpsel.
            Arbeitspraxis:
            Dirigenten:
· Belebung von Klangkonzepten, die bewusst auf Klangqualität und Ausdruck setzen statt auf Klangstärke;
· Vermeidung von Spitzenlautstärken in den Proben; volle Klangentfaltung  fortissimo nur in Generalproben und Konzerten.
            Orchestermusiker:
· Identifikation mit dem Klangkonzept Qualität vor Lautstärke;
· Rücksicht auf die Kollegen, vor allem in Proben;
· Der Konzertmeister kann sich vom Dirigenten in bestimmten Probensituationen eine leicht gedämpfte Ausführung ausbitten;
· Ausnutzung der Pausenzeiten für die Erholung des Hörorgans;
· „Antiakustische“ Ausstattung von privaten Musikräumen (Übe- und Unterrichtsräume);
· Gelegentlich mit Dämpfer üben;
· Verwendung individueller Gehörschutzutensilien;
· Warnungshinweise vor sehr lauten Stellen in der Orchesterstimme einzeichnen und individuelle Gehörschutzutensilien wenigsten in einigen Passagen verwenden (gut dosierte [nicht zu dicke] Wattestopfen sind ein billiges und recht wirksames Provisorium);
· Audiometrische Untersuchungen in den empfohlenen Abständen;
· Nicht exzessiv (mit Wattestäbchen) die Ohren reinigen (das Ohrschmalz hat durch seine „Schmierwirkung“ im Gehörgang einen positiven Effekt im Sinne des Lärmschutzes).
            Orchesterwarte/ Bühnentechniker:
· Aufbauen unter Berücksichtigung der Integration von Instrumentenfamilien, dabei
· Instrumente mit starker Klangemission vorzugsweise in einer Reihe.
· Maximale Raumausnutzung um Distanzen vor Instrumenten mit starker Klangemission zu schaffen (vor Schlagzeugern, Blechbläsern und Piccolo-Flöte).
· In Oratorien den Chor auf möglichst hohen Plattformen disponieren (hintere Empore).
            Technische Hilfsmittel
            Individuelle Schutzvorrichtungen:
            Es wird neuerdings mit Ohrenstöpseln experimentiert, die individuell „otoplastisch“ angepasst werden, um sie tief und dicht abschließend in den Gehörgang einführen zu können. Sie können wahlweise mit verschiedenen Filtern versehen werden, um die Dämmwirkung den jeweiligen Umständen anzupassen. Die Dämmwirkung ist „linear“ in einem breiten Klangspektrum, d.h., dass der Klang in seiner Stärke zwar herabgemindert, dabei aber nicht verzerrt wird. Trotz der spezifischen Vorteile haben sich diese Ohrenstöpsel bei Musikern noch nicht recht durchgesetzt, da der Effekt der sogenannten Knochenresonanz nicht ganz vermieden werden kann, wodurch die genaue Beurteilung des eigenen Klangbeitrags doch etwas beeinträchtigt wird. Auch ist bei den Proben etwas störend, dass die Anweisungen des Dirigenten nicht mehr so deutlich vernehmlich sind.
            Es gibt auch individuelle Lärmschutz-Schirme, die an der Rückseite der Stühle aufgestellt oder angebracht werden können. Diese sehen aus wie erweiterte Helme oder formgebogene Abschirmungen hinter dem Kopf des sitzenden Musikers, die mit einem klangabsorbierenden Material überzogen sind.
            Abschirmungen zwischen Instrumentengruppen:
            Die Physikalisch Technische Bundesanstalt in Braunschweig hat in einer Forschungsunternehmung Abschirmungen entwickelt, deren Aufstellung vor allem vor klangstarken Instrumentengruppen empfohlen wird (Schlagzeuger und Blechbläser). Die Installation sieht ungefähr so aus: Die „aktive“ Gruppe sitzt jeweils einen Meter höher als die „geschützte“ Gruppe. Die Schutzmodule sind möglichst groß und ohne Ritzen aneinandergekoppelt. Beide senkrechten Flächen (vorn und hinten) sind mit einem ca. 5cm dicken geräuschabsorbierenden Schaumstoff verkleidet. Der obere Bereich des Schirms ist nach vorn abgebogen und ragt schräg etwa 50 cm über die Köpfe der vor ihm sitzenden Musiker; dieser schräge Abschnitt ist aus einem mikroperforierten Acrylglas. Dieser Aufbau hat einen bemerkenswerten Schutzeffekt für die vor dem Schirm sitzenden Musiker, ohne deswegen die Fernwirkung des Klangs nennenswert zu alterieren. Indessen stellt sich das Problem, eine ästhetisch akzeptable Form des Bühnenaufbaus mit diesen Schirmen zu finden.
            Schutzschirme aus Acrylglas ohne Schaumstoffverkleidung bewirken eine intolerable Klangreflektion auf den „aussendenden“ Musiker.
            Kleinere individuelle Schirme haben nur einen minimalen positiven Effekt für die davon geschützte Person, wobei leider auch in Rechnung gestellt werden muss, dass durch die Ablenkung von Schallwellen die Klangstärke in benachbarten Bereichen sogar ansteigen und die Belastung dort sitzender Spieler erhöhen kann.
            Elektronische Verstärkung über Lautsprecher:
            Diese Technologie wird z.B. im der Berliner Philharmonie verwendet. Theoretisch wäre möglich, mit moderater Lautstärke zu spielen. Der produzierte Klang kann von Mikrofonen aufgefangen, von Computerprogrammen bearbeitet, alteriert, abgemischt, und dann quasi in „Echtzeit“ perfekt ausbalanciert in jeden beliebigen Winkel des Saals ausgestrahlt werden. Man spricht dann von „virtueller Akustik“. Natürlich erlaubt diese Technologie auch eine perfekte „Kontroll“-Beschallung der Bühne. In der Popmusik wird dieses Verfahren angewendet, um den Musikern den Klang über schnurlose und nach außen gedämmte Kopfhörer zurückzuspielen, was bei Spektakeln in den typischen Lautstärken dieses Genres ebenfalls einen Gehörschutzeffekt hat.
Natürlich hat der Einsatz solch fortgeschrittener Technologie auch schon Kritiker auf den Plan gerufen, die vor möglichem Missbrauch in künstlerischer Hinsicht warnen. Mit hardware letzter Generation und hochverfeinerter software können Tonmeister und sonstige Spezialisten in einem Saal mit trockener Akustik bereits genug tricksen, um beispielsweise ebendort die Akustik der Carnegie Hall zu fingieren.
            Maßnahmen der Arbeitsmedizin:
· Regelmäßige audiometrische und ärztliche Untersuchungen
· Routinemäßige Wartung der individuellen Schutzvorrichtungen
· Früherkennung und frühe Behandlung von Beeinträchtigungen
· Arbeiterfreundlicher Versicherungsschutz durch Krankenkassen und Berufsunfallrisiko-Versicherungen

Die geschilderten Maßnahmen sollten von allen beteiligten Personen und Instanzen ernstgenommen und nach Maßgabe der jeweiligen Verantwortlichkeiten verfolgt werden.

Julian Ehrhorn (erste Geige Tutti im Staatlichen Sinfonieorchester Argentiniens)

Quellen: